Simulate Evolution
GERMAN TEXT
Die Kunst Eliane Paulinos
Kunst-Stoffe (o.ä.)
“The great break in the organic chain between man and his nearest allies, which cannot be bridged over by any extinct or living species, has often been advanced as a grave objection to the belief that man is descended from some lower form; but this objection will not appear of much weight to those who, from general reasons, believe in the general principle of evolution.” Darwin, Descent of Man, 1871
1. Leben und frühe Prägungen
Eliane Paulino wurde 1968 in Jacarezinho, einer Stadt mit heute 40.000 Einwohnern im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná geboren. Dort wuchs sie mit sieben Geschwistern am Rande des Urwaldes auf. In ihrem Umfeld finden wir einen Panther, der als Haustier in ihrer Familie aufwuchs und für dessen Pflege sie zuständig war, aber auch den Formenreichtum der Pflanzen- und Tierwelt und die Vielfalt der Gerüche der nahen Kaffeeplantage. Es sind frühe Einflüsse, die ihre Wahrnehmungen und ihre Kunst nachhaltig prägten. Doch vor allem ist es das breite Farbenspektrum, die satten Farben ihrer Heimat, die in ihrem Werk immer wieder aufscheinen und es für den Betrachter zu einem einzigartigen Erlebnis machen.
Das Leben im Einklang mit der Natur fand mit dem Umzug in die Großstadt Sao Paulo ein abruptes Ende. Er bedeutete für sie das Ende der Kindheit und der Abschied von der ländlichen und naturnahen Idylle Jacarezinhos. Die spätere Auswanderung nach Europa, zunächst nach Portugal und später nach Deutschland, war eine weitere Station auf dem Weg der Vertreibung aus dem Paradies. Ein entscheidender Schritt für ihre persönliche und künstlerische Entwicklung war das Studium an der Kunstakademie Düsseldorf. Heute lebt und arbeitet Eliane Paulino in Deutschland, den USA und Brasilien.
Erst in Deutschland und den USA wurde sie, wie sie sagt „plastifiziert“ - die westliche Wunderwelt der Kunststoffe hat hier so ganz von ihr Besitz ergriffen. Kunststoff verbindet sich noch heute für sie ganz unmittelbar mit Fortschritt und einem Reichtum und Wohlstand, den sie von ihrem Heimatland her nicht kannte. Zugleich besitzt der Kunststoff für sie eine eminent politische Dimension. Als Wegwerfprodukt steht er für die Schattenseiten unserer modernen Industriegesellschaft, die sich längst nicht mehr regional begrenzen lassen. Mittlerweile sind die Folgen moderner Industrialisierung auch in Brasilien zu spüren. So vermischen sich im Umgang mit dem Kunststoff Erfahrungen aus ihrer Kindheit und eine Auseinandersetzung mit den Folgen der modernen Industriegesellschaft, die sie in einer einzigartigen Synthese von Farbe und Material in ihrer Kunst umsetzt. Sie unterzieht diesen Stoff immer neuen Verwandlungen, mit denen sie unsere herkömmlichen Wahrnehmungen in Frage stellt und uns die Möglichkeit eröffnet, über seine ästhetischen Qualitäten und sein Verhältnis zu uns neu nachzudenken. Wie geschieht das?
2. Biomorphia und Simulated Evolution*
Fragt man Eliane Paulino nach Vorbildern ihrer Kunst, so zeigt sie sich besonders von den Bildwelten des Evolutionsbiologen und Meeresforschers Ernst Haeckel fasziniert, der um 1900 die Kleinstlebewesen in den Weltmeeren, Radiolarien und Plankton zum Gegenstand einer umfangreichen Bildserie machte und unter dem Titel Kunstformen der Natur veröffentlichte. Die fragilen, mikroskopisch kleinen Kalkskelette dieser Lebewesen muten in ihrer Formenvielfalt und Symmetrie tatsächlich wie kleine Kunstwerke an und lassen die Jahrhunderte alte Trennung von Kunst und Natur vergessen. Auf den Bildern Eliane Paulinos begegnen uns Nachkommen solcher Wesen, die anmuten, als seien sie gerade aus den Tiefen des Meeres emporgestiegen. Es ist ein seltsamer Mikrokosmos, den sie vor uns ausbreitet: unbekannte Fische, beunruhigende Quallen mit Tentakeln, Invertebratae – Wirbellose – und seltsame Polypen. Die Wirkung der Bilder beruht nicht zuletzt auf einer Nahperspektive, die uns über die wahren Größenverhältnisse im Unklaren lässt und uns geradezu in das Innere dieser fremdartigen Organismen hineinzieht. Wir blicken auf ihre Bilder wie durch das Okular eines Mikroskops und begeben uns auf eine Reise in die Tiefen eines lebendigen Wesens; gut ausgeleuchtet glauben wir Fragmente von Zellen, Mitochondrien oder die molekularen Strukturen eines Zellkerns zu erkennen.
Nicht zufällig hat sie ihre Bildserien mit biomorphia und simulated evolution überschrieben, Titel, mit denen sie ihre Kunst in die Nähe biologischer Prozesse rückt. Charles Darwin und die von ihm ausgehende Evolutionsbiologie erweisen sich hier als Quelle vielfältiger Anregungen. Es ist die Eigendynamik organischen Lebens, das Eliane Paulino fasziniert: So ist für sie die Urform der Bakterie nicht nur der Beginn einer langen evolutionären Entwicklung hin zu immer differenzierteren und höher organisierten Lebensformen, sondern ganz unmittelbar Ausgangspunkt ihrer Kunst. Zugleich zeigt der Blick auf die Geschichte des Lebens auf der Erde ein fantastisches Formeninventar, das es in Übergängen und Verwandlungen zu erfassen gilt. In ihren Bildern wird das tote, künstliche Material des Kunststoffs lebendig, es blüht auf zu organischen und vitalen Formen an den Übergängen von Leben und Tod. In der Möglichkeit, Kunststoff auf unendlich verschiedenartige Weise zu verformen und zu verbiegen, lässt sich zugleich ein Grundprinzip evolutionärer Prozesse erkennen, durch verschwenderische und experimentelle Formenfülle inmitten einer feindlichen Umwelt die eigene Nische, den eigenen Lebensraum zu finden. Ein Wesensmerkmal ihrer Kunst ist, diese Formenvielfalt in schöpferischer Weise parallel zur Natur nachzubilden und neue Formen zu schaffen.
3. Plastic Planet
Wohl kaum ein anderes modernes Material steht für Modernität, Reichtum und Fortschritt und zugleich für eine Gefährdung unserer natürlichen Umwelt wie der Kunststoff. Wir leben heute auf einem Plastik-Planeten, wobei ein guter Teil des von uns produzierten Mülls nicht auf Müllkippen landet, sondern an Straßenrändern und in der freien Natur. Zugleich bedarf es zur milliardenfachen Herstellung von Plastikflaschen, Einkaufstüten und Lebensmittelverpackungen einer großen Menge des kostbaren Rohstoffs Öl. Eliane Paulino erzählt von den USA, wo sie allerorten auf weggeworfene Plastikflaschen stieß und sich darüber wunderte, dass die Nordamerikaner Kriege um Öl führen, um die daraus entstandenen Produkte anschließend als Müll zu entsorgen. Gleichermaßen gefährdet Kunststoff uns selbst und unsere Umwelt. Weit über ihren Ursprungsort in den reichen Industrieländer hinaus haben sich die fragmentierten Reste von Kunststoffprodukten in alle vier Himmelsrichtungen verbreitet, landen in den Mägen von Meeres- und Landbewohnern und kehren schließlich in vielerlei Lebensmitteln auf unsere Teller zurück. Als kleinste Partikel geraten sie in unsere Blutbahnen oder wirken über nanotechnologische Verfahren bis in die kleinsten Zellen hinein.
Längst haben die Industrie und der globalisierte Plastikmüll auch Brasilien erreicht. Die Anfänge dieser Entwicklung und die Auswirkungen moderner Zivilisation auf die Ureinwohner des Landes hat schon früh der Ethnologe Claude Levi-Strauss in Traurige Tropen beschrieben. Als er Anfang der 1930er Jahre von São Paulo aus in die Regenwälder und zu den Ureinwohnern Paranás aufbrach, war er von dieser vorzivilisatorischen und paradiesischen Urwelt überwältigt und wusste doch zugleich, dass ihre Tage angesichts eines vordringenden industriellen Fortschritts gezählt waren. Mit den Mitteln ihrer Kunst gibt Eliane Paulino diese frühen Erfahrungen und Widersprüchen Ausdruck und schreibt sie bis in die Gegenwart fort.
Ebenso lebt ihre Kunst aber auch aus dem biographisch geprägten Spannungsfeld ihrer frühen Erfahrungen eines Lebens im Einklang mit der Natur und ihrem gegenwärtigen Leben in einer hochentwickelten Industriegesellschaft. In ihrer einzigartigen Kombination von Materialien, Farben und Formen ist ihre Kunst jedoch nicht nur ein Kommentar über den Verlust einer besseren Welt oder eine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart. Im Gegenteil: angesichts einer immer weiter fortschreitenden Plastifizierung der Welt strahlt ihre farbenfrohe und vielgestaltige Kunst nicht zuletzt Heiterkeit und Zuversicht und damit Optimismus aus.
Stefan Siemens
* Fogel, Lawrence J., Intelligence Through Simulated Evolution, John Wiley, 1996.
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